BEST PRACTICE
Integrations- bzw. Migrations-
beauftragte an Kliniken
23.1.2020 | Im Jahr 2013 führt die Vitos-
Holding in allen Tochtergesellschaften
Migrationsbeauftragte in den Kliniken und
einen Konzernmigrationsbeauftragten ein.
Im Gespräch erläutert uns Prof. Dr. Eckhardt
Koch, Konzernmigrationsbeauftragter des
Vitos-Konzerns, Hintergründe, Entstehung
und konkrete Umsetzung der Bestellung von
Migrationsbeauftragten an den Kliniken des
hessischen Konzernverbunds.
Die Migrationsbeauftragten sind institutionell
in der Konzernstruktur verankert und leisten
ihren Beitrag nicht ehrenamtlich, sondern
verfügen per Freistellung über ein fest-
gelegtes Stundendeputat von 10% einer
Vollzeitstelle (d.h. 4 Std./Woche).
Der Migrationsbeauftragte soll dem Thema in
der Institution ein Gesicht geben, soll die
Klinik nach innen und außen dazu vertreten.
„Nach innen“ ist er Ansprechpartner für
Patienten und Mitarbeiter, ermittelt Bedarfe
und stellt heraus, welche Erfordernisse in
„seiner“ Institution konkret bestehen und
trägt Verantwortung dafür, das Thema in
hausinternen Fortbildungen (Pflege-
fortbildung, ärztliche Fortbildung ec.) zu
platzieren. „Nach außen“ vertritt er die
Institution in Gremien und Arbeitskreisen, die
sich dem Thema widmen und wird somit
zum „Netzwerker“ und Ansprechpartner
für migrationsspezifische Fragestellungen in
der Gesundheitsversorgung.
Ziel der Arbeit des Migrationsbeauftragten ist
es, die Selbstverständlichkeit des Themas auf
fachlicher Ebene zu etablieren und den
stetigen Reflexionsprozess der Mitarbeiter
als wichtigen Bestandteil zur inter-
kulturellen Öffnung als fachliche
Notwendigkeit in die automatisierten
Abläufe in einer Klinik einzubinden. Um
sicherzustellen, dass interkulturelle
Kompetenz und Öffnung nachhaltig ein
fester Bestandteil des Klinikalltags ist und
bleibt, bedarf es einer möglichst breit
gestaffelten, auch über das jeweilige Leitbild
oder ähnliches festgeschriebenen
institutionellen Verankerung. Im Gespräch
mit uns merkt Prof. Dr. Koch dazu an, dass
im Bereich der interkulturellen Psychiatrie
bislang vieles über Projekte gelaufen sei und
über die daran beteiligten Personen und
deren Engagement und Herzblut. Oft sei es
in der Folge der Fall gewesen, dass „das
Thema tot war“, wenn diese Personen aus
irgendwelchen Gründen (Auslaufen des
Projekts etc.) nicht mehr an der ent-
sprechenden Position waren.
Entstehung und Arbeitsweise
der Migrationsbeauftragten
Der auf dem Gebiet der interkulturellen bzw.
transkulturellen Psychiatrie erfahrene Prof.
Koch war ab 1994 16 Jahre lang Vorsitzender
der Deutsch-Türkischen Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und psycho-
soziale Gesundheit e.V. (DTGPP). Im
Dezember 2009 wurde er zum ersten
Migrationsbeauftragten der Vitos-Klinik
Gießen-Marburg berufen.
Nachdem eine konzernweite Umsetzung
zunächst noch nicht gewollt war, führten die
im Pilotprojekt in Marburg gemachten
Erfahrungen zum Umdenken in der Konzern-
spitze: Man kann mit dem Thema als
Gesundheitskonzern auch offensiv umgehen
und es gezielt für das eigene Profil nutzen,
das Thema also als Chance und Qualitäts-
merkmal begreifen. Dazu entstand seitens
des Konzerns die Haltung, dass es für das
Erreichen von Nachhaltigkeit in der
interkulturellen Öffnung erforderlich ist,
dass Geschäftsführungen entsprechende
Konzepte einführen (top-down) und gleich-
zeitig durch Vermittlung der Migrations-
beauftragten Mitarbeiter der Basis geschult
werden (bottom-up).
Mit der im Jahre 2013 erfolgten konzern-
weiten Ernennung von Migrations-
beauftragten wurde der Arbeitskreis
Migration („AK Migration“) geschaffen, in
dem alle Migrationsbeauftragten der Kliniken
und der Konzernmigrationsbeauftragte
zusammenarbeiten. Im Zuge der drei-viermal
jährlich stattfindenden Sitzungen werden
inhaltlich aktuelle Themen und Probleme
diskutiert, Vorschläge gemacht und
Entwicklungsprozesse angestoßen. Mit der
Anerkennung als Arbeitskreis sieht Koch die
Arbeit der Migrationsbeauftragten auf der
Ebene des Konzerns gut etabliert.
Zu den ersten Aufgaben des Arbeitskreises
gehörte die konzernweite Erhebung von
Patientendaten, die den Migrations-
hintergrund einschlossen. Erfasst wurden
alle Patienten, die sich während der
Erhebungswoche in voll- oder teilstationärer
Behandlung befanden. Neben zahlreichen
weiteren Erkenntnissen stach aus den
Ergebnissen der Bestandsaufnahme die
Thematik der Sprachbarriere ins Auge. In
einem hohen Prozentsatz wurde in den
Fragebögen von Problemen in der sprach-
lichen Verständigung berichtet, aber nur in
vereinzelten Fällen seien Dolmetscher
eingesetzt worden.
Konkrete Umsetzung
Da Sprachbarrieren und Verständigungs-
hindernisse konzernweit eines der größten
Probleme für die adäquate Versorgung und
Behandlung von Geflüchteten und Migranten
darstellen, haben sich die Migrations-
beauftragten des Themas gemeinsam
angenommen. Zur Verbesserung der
strukturellen Rahmenbedingungen für
Dolmetschereinsätze konnte ein Drei-
Säulen-Modell entwickelt werden. Neben
geschulten hausinternen Dolmetschern aus
den Reihen der Vitos-Mitarbeiterschaft (1.
Säule) und der Nutzung von externen
Dolmetscherdiensten wie z.B. Gemeinde-
dolmetscherdienste (2. Säule) kann seit
Oktober 2019 konzernweit auch das Angebot
des Videodolmetschens (3. Säule) genutzt
werden.
Die Konzernleitung verbindet mit Angebot
und Einsatz von Dolmetschern zwei
wesentliche Vorteile. Zum einen kann ein
Qualitätsversprechen abgegeben werden:
„Wir sorgen dafür, dass jeder Patient der
kommt, sich verständigen kann.“ Zudem
werde durch den Dolmetschereinsatz
Mitarbeiter- und Patientenzufriedenheit
gestärkt.
Koch weist darauf hin, dass die einzelnen
Säulen an den unterschiedlichen Klinik-
standorten nicht in gleicher Weise ausgebaut
und verfügbar sind. Zum Videodolmetschen
ergänzt er, dass dies vor allen Dingen für
Notfälle und für Zeiten gedacht ist, in denen
andere Dolmetscher nicht zur Verfügung
stehen. Ansonsten werde immer der
persönliche Kontakt mit dem Dolmetscher
bevorzugt.
Zugangsbarrieren zur
psychiatrischen und
psychotherapeutischen
Versorgung
Der Einsatz von Migrationsbeauftragten dient
insgesamt der Herabsetzung von Zugangs-
barrieren für Migranten zur Gesundheits-
versorgung. Zur Verdeutlichung der Breite
des Arbeitsfeldes dient ein kurzer Blick auf
die verschiedenen Arten an Barrieren.
Koch zitiert in einem Fachartikel vier
verschiedene Kategorien |* von Barrieren.
Systembezogene migrantenspezifische
Zugangsbarrieren, worunter im
Wesentlichen die mangelnde interkulturelle
Öffnung der Institutionen zu zählen ist
(unzureichende interkulturelle Kompetenz
des Personals, fehlende Broschüren in den
wichtigsten Muttersprachen, Nicht-
berücksichtigung von kulturgeprägten
Krankheitskonzepten, unzureichende
Dolmetscherdienste etc.) und personen-
bezogene migrantenspezifische
Zugangsbarrieren (Wissensdefizite,
Unzureichende Deutschkenntnisse,
krankheitsbezogene religions- oder kultur-
spezifische Barrieren, Angst vor potentieller
Stigmatisierung und Diskriminierung).
Zudem sind systembezogene, vom
Migrantenstatus primär unabhängige
Zugangsbarrieren (Komplexität und
Intransparenz des Gesundheitssystems,
abwartende Komm-Struktur der Institutionen
etc.) und personenbezogene, vom
Migrantenstatus primär unabhängige
Zugangsbarrieren (u.a. schichtspezifische
Merkmale) zu beachten. |* Koch, Eckhardt:
Psychiatrische Versorgung und interkulturelle
Öffnung, in: Graef-Calliess, Schouler-Ocak,
Migration und Transkulturalität, Stuttgart
2017, S. 85 ff.
Ungünstiges Zusammenwirken von Barrieren
der genannten Kategorien können sich zu
Barriere-Komplexen verdichten; „Sprache“,
„Wissen“, „Religion, Kultur, Milieu“ und
„Diskriminierung“.
Die Punkte, an denen Migrationsbeauftragte
ansetzen können, sind also vielfältig.
Nachahmung erwünscht, wenn
nicht gar gefordert
„In der Psychiatrie geht es um Behandlung,
geht es um Therapie und da muss man
schon auch die Forderung stellen, dass das
auf einem professionellen Niveau läuft!“ Dies
gelte für die Behandlung aller Patienten.
Überzeugt von der Einschätzung, dass
Weiterentwicklung und Nachhaltigkeit auf
dem Gebiet der interkulturellen Öffnung an
Kliniken nur über institutionelle Verankerung
und nicht als zeitlich begrenztes oder ehren-
amtliches Herzblutengagement möglich sind,
formuliert Prof. Koch wichtige Eigenschaften,
die ein Migrationsbeauftragter mitbringen
sollte: „Man braucht Frustrationstoleranz,
Durchhaltevermögen und Mut zu kreativen
Lösungen.“
Dass die Ernennung von Migrations-
beauftragten bei Vitos als Erfolg gewertet
wird, zeigt das Beispiel der drei Kliniken, die
zu Gießen-Marburg gehören. Hier wurde das
Stundendeputat wegen der komplexen
Aufgaben an drei Standorten von der
Krankenhausleitung bereits der Realität
angepasst und freiwillig auf 30 Prozent einer
Vollzeitstelle erhöht.
Das Gespräch mit Herrn Prof. Dr. Koch wurde
am 22.10.2019 in Marburg geführt.
Autor: Sebastian Sikkes | Koordinierungs-
stelle für die interkulturelle Öffnung des
Gesundheitssystems in Rheinland-Pfalz
Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text
darauf verzichtet, geschlechtsspezifische
Formulierungen zu verwenden. Soweit
personenbezogene Bezeichnungen nur in
männlicher Form angeführt sind, beziehen
sie sich auf Männer und Frauen in gleicher
Weise.