Die Coronakrise und ihre Auswirkung auf
die psychische Situation Geflüchteter –
wie können wir helfen?
von Petra Mattes
27.3.2020 | Wie unschwer nachzuvollziehen, bergen die derzeitigen Auswirkungen
der Coronakrise auf das gesellschaftliche Miteinander einige besondere Härten für
die psychische Gesundheit Geflüchteter, auch in Deutschland. Eine sehr gute
Zusammenstellung dazu ist auf der Homepage der bundesweiten Arbeits-
gemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer BAfF zu
finden, die beispielsweise die Situation der in den Unterkünften lebenden
Geflüchteten wie folgt zusammenfasst: „Während „Zu-Hause-Bleiben“ für viele
Menschen mit dem Rückzug an einen sicheren Ort gleichzusetzen ist, sind
Geflüchtete in Massenunterkünften allen Risikofaktoren ausgesetzt, die im Moment
dringend vermieden werden sollen.“ Und diese Risikofaktoren beziehen sich nicht
nur auf das Ansteckungsrisiko, sondern auch auf die psychische Gefährdung. Nicht
zufällig wird in dem Statement der BAfF mit der Wahl der Bezeichnung „Sicherer
Ort“ ein Fachbegriff aus dem Gebiet der Traumapsychologie aufgegriffen. Ein
sicherer Ort ist nach diesem Verständnis nicht nur wie im speziellen Fall ein Ort, an
dem man sich vor einer virusbedingten Ansteckung schützen kann, sondern im
weiteren Sinne ist es ein – manchmal auch nur dank der inneren Vorstellungskraft
existierender – Ort, an dem man sich geschützt und geborgen fühlt und an dem im
Sinne der Traumatherapie Heilung beginnen oder fortgesetzt werden kann.
Selbstredend kann eine Massenunterkunft, in der bereits das Einhalten des sozialen
Mindestabstands aufgrund der Enge der Bettenbelegung kaum möglich sein dürfte,
ganz zu schweigen von den Gefährdungen, die von der gemeinsamen Nutzung von
Sanitäreinrichtungen und Küchen ausgeht, weder selbst ein solcher sicherer Ort
sein, noch kann aktuell hier die Chance bestehen, sich unter diesen Umständen
einen inneren sicheren Ort zu schaffen. Besonders die hier lebenden Geflüchteten
stehen also vor dem Problem, dass die medienwirksam und sinnvollerweise von
Politiker*innen und Wissenschaftler*innen von der Bevölkerung geforderten
Verhaltensmaßregeln in der Coronakrise für sie schlicht nicht umsetzbar sind. Dies
führt zum einen zu einem wachsenden Bedrohungsgefühl der Betroffenen („ich
kann mich und meine Familie nicht in Sicherheit bringen“), zum anderen aber auch
zu einem fatalen moralischen Problem: um derzeit zu “den Guten“ zu gehören, ist es
erste Staatsbürger*innenpflicht, soziale Distanz zu wahren. Wer aufgrund der
Umstände diese Distanz aber nicht wahren kann, ist infolgedessen doppelt
ausgegrenzt: er/sie kann – wie gesagt – nicht nur sich und die eigene Familie nicht
schützen, sondern begibt sich zusätzlich in die gesellschaftlich geächtete Position
des potentiellen Seuchenüberträgers, der möglicherweise zwar nicht selbst
erkrankt, aber „egoistisch“ Schwächere – und dies unter Umständen tödlich –
gefährdet. Dass viele der nach Deutschland geflüchteten Menschen in kulturellen
Umfeldern aufgewachsen sind, in denen Familie und der Respekt gegenüber älteren
Menschen deutlich ausgeprägter sind als in der gegenwärtigen deutschen
Gesellschaft, verstärkt die psychische Problematik der Betroffenen weiter.
Deshalb ist die Forderung nicht nur vieler Flüchtlingsinitiativen, nach Möglichkeit die
Auflösung der Massenunterkünfte zu betreiben und den dort lebenden Menschen
jetzt sicheren, hygienisch unbedenklichen Wohnraum zur Verfügung zu stellen,
nicht nur aus der Perspektive einer enormen Ansteckungsgefahr wichtig und richtig,
sondern auch aus Gründen der Menschenwürde und des Anstands. Es ist zynisch,
social distancing als die Tugend dieser Tage zu propagieren, ohne gleichzeitig die
Menschen – auch die Geflüchteten – in die Lage zu versetzen, dieser Aufforderung
auch nachkommen zu können.
Doch nicht nur für die in den Massenunterkünften lebenden Geflüchteten sind die
coronabedingten gesellschaftlichen Veränderungen besonders schwierig. Verein-
zelung, Ausgangsbeschränkungen, und ein diese Maßnahmen überwachender Staat
in Form von patroullierenden Polizist*innen und Sicherheitskräften können bei
allen Menschen, die sich schon einmal real in solchen Situationen befanden, sehr
leicht Erinnerungen wecken an mit ähnlichen Erfahrungen verknüpfte Kriegs-,
Gewalt- und Bedrohungserlebnisse und bereits überwundene Symptome neu
ausbrechen lassen oder auch erst auslösen. Bei entsprechend psychisch vor-
belasteten Menschen, vor allem mit den bei Geflüchteten im Vergleich zum
Durchschnitt besonders häufig vorkommenden posttraumatischen Belastungs-
störungen (PTBS), sind zum Teil extreme psychophysiologische Reaktionen wie
langanhaltende Angstattacken mit Atemnot und psychogenen Krampfanfällen, oder
lebensbedrohliche depressive Zustände zu erwarten.
Das Wissenschaftsjournal Lancet hat anlässlich der Coronakrise eine Zusammen-
fassung zum aktuellen Wissensstand zu psychischen Folgen von Quarantäne-
maßnahmen und den Möglichkeiten, diese möglichst gering zu halten veröffent-
licht. Sie werteten hierzu dutzende wissenschaftliche Studien aus, die sich mit dem
Effekt zumeist häuslicher Quarantänemaßnahmen bei Seuchengefahren auf das
psychische Befinden der Betroffenen beschäftigten und kamen zu dem Ergebnis,
dass diese fast durchweg negativ waren. Besonders häufig traten PTBS-Symptome,
Verwirrtheit, Angst und starker Ärger auf. Die Symptomstärke war verbunden mit
der Zeitdauer der erforderlichen Quarantäne, mit der Höhe der Ansteckungsgefahr,
mit unzureichender Information über die Epidemie, einer unzureichender Ver-
sorgung, und mit Langeweile und Frustrationserleben. In etlichen Studien wurden
Effekte gefunden, die zeitlich weit bis nach Beendigung der Quarantäne-
maßnahmen anhielten.
Die Verfasser*innen der Studie empfehlen daher, dass die Behörden Individuen
keinesfalls länger in Quarantäne lassen sollten als wirklich erforderlich, dass sie
klare Informationen zur Verfügung stellten sollten, weshalb die Isolation absolut
notwendig ist, was genau es zu beachten gilt und wie lange die Maßnahme
voraussichtlich anhält, und dass sichergestellt sein muss, dass eine ausreichende
Versorgung der Betroffenen vorhanden ist. Zusätzlich sinnvoll, so die
Verfasser*innen weiter, kann es sein, die Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass die
individuelle Quarantäne altruistisches Verhalten für andere Menschen darstellt –
also Nächstenliebe und Fürsorge für andere, für diejenigen, die jetzt stärker als man
selbst bedroht und gefährdet sind bedeutet.
Im Licht der hier dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnisse erscheinen viele der
in den letzten Tagen und Wochen im Zuge der Coronakrise in Deutschland
beschlossenen und umgesetzten Maßnahmen auch für die psychische Gesundheit
des Gros der Betroffenen gut und sinnvoll. Daher ist es jetzt besonders wichtig,
diese auch so umzusetzen, dass die in Zeiten der Coronakrise besonders vulnerable
Bevölkerungsgruppe der in Deutschland lebenden Menschen mit Fluchthintergrund
ebenfalls so gut wie möglich geschützt werden vor den körperlichen und
psychischen Gefahren der Epidemie und ihrer Folgen. Dies bedeutet zunächst die
geschilderten Veränderungen der Lebenssituation der in Massenunterkünften
untergebrachten Geflüchteten.
Des Weiteren ist die Bereitstellung fundierter aktueller Informationen zu Charakter
und Verlauf der Pandemie und zu den infolgedessen stattfindenden Maßnahmen in
der Muttersprache der Geflüchteten notwendig, Informationen zu entsprechenden
Materialien online und offline finden sich u.a. auch auf der Homepage der BAfF.
Die Vermittlung dieser Informationen ist dank der durchweg guten Ausstattung der
Geflüchteten mit Mobiltelefonen eine vergleichsweise einfach zu bewerkstelligende
Möglichkeit für haupt- und ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe tätige Personen, hier
wirklich Unterstützung anbieten zu können.
Neben den bereits vielfältig stattfindenden durch Privatpersonen und Helferkreise
organisierten Angeboten möchte ich hier vor allem- vielleicht durch meine eigene
derzeitige Situation im Homeoffice angestoßen – auf die Möglichkeit von Telefon-
gesprächen unter Hinzuschaltung von Sprachmitter*innen in Form einer Telefon-
konferenz hinweisen. Telefonanrufe durch einen Menschen, mit dem im Bestfall
schon vorher hilfreiche und freundliche Kontakte bestanden, kann vor allem in
Krisenzeiten auch auf psychologischer Ebene Wesentliches bewirken und ein
wesentlicher Schutzfaktor für den Erhalt der psychischen Gesundheit sein. Dem
Erleben von Isolation und Alleingelassenwerden wird entgegengewirkt. Jemanden
zu haben, den man fragen kann zu all dem, was man nicht versteht an der aktuellen
Situation und der oder die mir im Gespräch vielleicht auch hilft, unterschiedliche
Informationen, die ich aus Informationsquellen aus meinem Herkunftsland beziehe
im Vergleich zu denen, die ich in Deutschland bekomme sinnvoll miteinander
abzugleichen – all das ist in einem persönlichen Telefongespräch gut möglich und
schützt im Sinne in dem Lancet Artikel zusammengestellter Faktoren vor negativen
Folgen der Isolation. Für uns als Mitarbeiter*innen im PSZ bedeuten diese
Telefonate, dass wir weiterhin für unsere Klient*innen da sein können – gerade
auch in dieser Krisenzeit!
Viele der in Deutschland lebenden Geflüchteten haben Angehörige in ihren
Herkunftsländern, mit denen sie in Kontakt stehen und um die sie sich sorgen. Hier
kann eine Unterstützung durch uns Helfende beispielsweise darin bestehen zu
ermutigen, ganz praktische Informationen wie zum Beispiel zu Sicherheitsabstand
und langem Händewaschen mit Seife an die Angehörigen per Telefon weiter-
zugeben und somit zumindest in ganz kleinem Ausmaß selbst Gutes für andere
bewirken zu können.
Im PSZ Mainz machen wir auch bereits erste gute Erfahrungen mit Telefon-
konferenzen zu dritt: Unterstützer*in – Sprachmittler*in – geflüchteter Mensch. Auf
diese Weise kann zumindest für einige von Coronakrise und Isolation betroffene
geflüchtete Menschen, mit denen sonst Gespräche aufgrund der Sprachbarriere
nicht möglich wären, Kontakt, Austausch und Informationsvermittlung ermöglicht
werden. Außer bei denjenigen Klient*innen für die diese Form des Kontaktes
aufgrund aktueller zu schwerer psychischer Probleme nicht möglich ist, stößt doch
das Angebot derartiger Telefonkonferenzen bei überraschend vielen Klient*innen
auf Anklang, und sowohl sie selbst wie auch die Sprachmittler*innen zeigen viel
Initiative, damit die Gespräche gut gelingen können. Insgesamt ist zu beobachten,
dass unsere Klient*innen sehr stark versuchen, sich richtig zu verhalten während
der Coronakrise und für jede Information dazu sehr dankbar sind.
Leider hat sich in Deutschland unnötigerweise die englischsprachige Version des
Begriffes „Räumliche Distanzierung“ durchgesetzt. Unter Wikipedia findet man
hierzu folgenden Eintrag:
„Räumliche Distanzierung (englisch: social distancing), auch räumliche Trennung
oder physische Distanzierung, ist eine Reihe von nicht-pharmazeutischen Maß-
nahmen zur Infektionskontrolle, die die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit
stoppen oder verlangsamen sollen. Die Maßnahmen bezwecken, den Kontakt
zwischen Menschen zu verringern und so die Anzahl von Infektionen, etwa durch
Tröpfcheninfektionen, zu verringern.
Die Übersetzung des auch in deutschsprachigen Medien verwendeten englischen
Begriffs „social distancing“ in das deutsche soziale Distanzierung ist missverständ-
lich; der Begriff „social distancing“ impliziert, dass Personen gesellschaftlichen
Abstand zueinander halten. Es geht aber nicht um eine soziale Isolation der
Individuen, sondern um die räumliche Distanzierung von (möglicherweise)
infizierten zu nicht infizierten Personen.“
Geflüchtete sind aufgrund ihrer persönlichen Geschichte besonders verletzlich für
im Rahmen der Coronakrise erfolgende Quarantänemaßnahmen. Als Helfende
können wir auf vielfältige Weise dazu beitragen, dass aus der notwendigen räum-
lichen Distanzierung keine – möglicherweise nachhaltig schädigende - soziale
Isolation wird.
Mit herzlichen Grüßen
Petra Mattes
Diplom-Psychologin | Psychosoziales Zentrum für Flucht und Trauma des
Caritasverbands Mainz e.V.
Quellen:
Samantha K Brooks, Rebecca K Webster, Louise E Smith, Lisa Woodland, Simon
Wessely, Neil Greenberg, Gideon James Rubin : The psychological impact of
quarantine and how to reduce it: rapid review of the evidence, veröffentlicht in
Lancet 2020; 395: 912–20, Published Online,February 26, 2020
BAfF Statement vom 23.3.2020 Was hilft gegen die Angst? Verstärkte Unsicherheiten
und sozialer Abstand zu Zeiten der Corona-Pandemie: Psychosoziale Unterstützung
für Geflüchtete dringend notwendig | baff-zentren.org/news/...corona/
Die Coronakrise und ihre
Auswirkung auf die psychische
Situation Geflüchteter – wie
können wir helfen?
von Petra Mattes
27.3.2020 | Wie unschwer nachzuvollziehen,
bergen die derzeitigen Auswirkungen der
Coronakrise auf das gesellschaftliche
Miteinander einige besondere Härten für die
psychische Gesundheit Geflüchteter, auch in
Deutschland. Eine sehr gute Zusammen-
stellung dazu ist auf der Homepage der
bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der
psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und
Folteropfer BAfF zu finden, die beispielsweise
die Situation der in den Unterkünften
lebenden Geflüchteten wie folgt
zusammenfasst: „Während „Zu-Hause-
Bleiben“ für viele Menschen mit dem
Rückzug an einen sicheren Ort gleich-
zusetzen ist, sind Geflüchtete in Massen-
unterkünften allen Risikofaktoren ausgesetzt,
die im Moment dringend vermieden werden
sollen.“ Und diese Risikofaktoren beziehen
sich nicht nur auf das Ansteckungsrisiko,
sondern auch auf die psychische
Gefährdung. Nicht zufällig wird in dem
Statement der BAfF mit der Wahl der
Bezeichnung „Sicherer Ort“ ein Fachbegriff
aus dem Gebiet der Traumapsychologie
aufgegriffen. Ein sicherer Ort ist nach diesem
Verständnis nicht nur wie im speziellen Fall
ein Ort, an dem man sich vor einer virus-
bedingten Ansteckung schützen kann,
sondern im weiteren Sinne ist es ein –
manchmal auch nur dank der inneren
Vorstellungskraft existierender – Ort, an dem
man sich geschützt und geborgen fühlt und
an dem im Sinne der Traumatherapie
Heilung beginnen oder fortgesetzt werden
kann.
Selbstredend kann eine Massenunterkunft,
in der bereits das Einhalten des sozialen
Mindestabstands aufgrund der Enge der
Bettenbelegung kaum möglich sein dürfte,
ganz zu schweigen von den Gefährdungen,
die von der gemeinsamen Nutzung von
Sanitäreinrichtungen und Küchen ausgeht,
weder selbst ein solcher sicherer Ort sein,
noch kann aktuell hier die Chance bestehen,
sich unter diesen Umständen einen inneren
sicheren Ort zu schaffen. Besonders die hier
lebenden Geflüchteten stehen also vor dem
Problem, dass die medienwirksam und
sinnvollerweise von Politiker*innen und
Wissenschaftler*innen von der Bevölkerung
geforderten Verhaltensmaßregeln in der
Coronakrise für sie schlicht nicht umsetzbar
sind. Dies führt zum einen zu einem
wachsenden Bedrohungsgefühl der
Betroffenen („ich kann mich und meine
Familie nicht in Sicherheit bringen“), zum
anderen aber auch zu einem fatalen
moralischen Problem: um derzeit zu “den
Guten“ zu gehören, ist es erste Staats-
bürger*innenpflicht, soziale Distanz zu
wahren. Wer aufgrund der Umstände diese
Distanz aber nicht wahren kann, ist infolge-
dessen doppelt ausgegrenzt: er/sie kann –
wie gesagt – nicht nur sich und die eigene
Familie nicht schützen, sondern begibt sich
zusätzlich in die gesellschaftlich geächtete
Position des potentiellen Seuchenüber-
trägers, der möglicherweise zwar nicht selbst
erkrankt, aber „egoistisch“ Schwächere – und
dies unter Umständen tödlich – gefährdet.
Dass viele der nach Deutschland geflüch-
teten Menschen in kulturellen Umfeldern
aufgewachsen sind, in denen Familie und der
Respekt gegenüber älteren Menschen
deutlich ausgeprägter sind als in der
gegenwärtigen deutschen Gesellschaft,
verstärkt die psychische Problematik der
Betroffenen weiter.
Deshalb ist die Forderung nicht nur vieler
Flüchtlingsinitiativen, nach Möglichkeit die
Auflösung der Massenunterkünfte zu
betreiben und den dort lebenden Menschen
jetzt sicheren, hygienisch unbedenklichen
Wohnraum zur Verfügung zu stellen, nicht
nur aus der Perspektive einer enormen
Ansteckungsgefahr wichtig und richtig,
sondern auch aus Gründen der Menschen-
würde und des Anstands. Es ist zynisch,
social distancing als die Tugend dieser Tage
zu propagieren, ohne gleichzeitig die
Menschen – auch die Geflüchteten – in die
Lage zu versetzen, dieser Aufforderung auch
nachkommen zu können.
Doch nicht nur für die in den Massenunter-
künften lebenden Geflüchteten sind die
coronabedingten gesellschaftlichen Verän-
derungen besonders schwierig. Vereinzelung,
Ausgangsbeschränkungen, und ein diese
Maßnahmen überwachender Staat in Form
von patroullierenden Polizist*innen und
Sicherheitskräften können bei allen
Menschen, die sich schon einmal real in
solchen Situationen befanden, sehr leicht
Erinnerungen wecken an mit ähnlichen
Erfahrungen verknüpfte Kriegs-, Gewalt- und
Bedrohungserlebnisse und bereits über-
wundene Symptome neu ausbrechen lassen
oder auch erst auslösen. Bei entsprechend
psychisch vorbelasteten Menschen, vor allem
mit den bei Geflüchteten im Vergleich zum
Durchschnitt besonders häufig vorkom-
menden posttraumatischen Belastungs-
störungen (PTBS), sind zum Teil extreme
psychophysiologische Reaktionen wie
langanhaltende Angstattacken mit Atemnot
und psychogenen Krampfanfällen, oder
lebensbedrohliche depressive Zustände zu
erwarten.
Das Wissenschaftsjournal Lancet hat
anlässlich der Coronakrise eine Zusammen-
fassung zum aktuellen Wissensstand zu
psychischen Folgen von Quarantäne-
maßnahmen und den Möglichkeiten, diese
möglichst gering zu halten veröffentlicht. Sie
werteten hierzu dutzende wissenschaftliche
Studien aus, die sich mit dem Effekt zumeist
häuslicher Quarantänemaßnahmen bei
Seuchengefahren auf das psychische
Befinden der Betroffenen beschäftigten und
kamen zu dem Ergebnis, dass diese fast
durchweg negativ waren. Besonders häufig
traten PTBS-Symptome, Verwirrtheit, Angst
und starker Ärger auf. Die Symptomstärke
war verbunden mit der Zeitdauer der
erforderlichen Quarantäne, mit der Höhe der
Ansteckungsgefahr, mit unzureichender
Information über die Epidemie, einer
unzureichender Versorgung, und mit
Langeweile und Frustrationserleben. In
etlichen Studien wurden Effekte gefunden,
die zeitlich weit bis nach Beendigung der
Quarantänemaßnahmen anhielten.
Die Verfasser*innen der Studie empfehlen
daher, dass die Behörden Individuen
keinesfalls länger in Quarantäne lassen
sollten als wirklich erforderlich, dass sie klare
Informationen zur Verfügung stellten sollten,
weshalb die Isolation absolut notwendig ist,
was genau es zu beachten gilt und wie lange
die Maßnahme voraussichtlich anhält, und
dass sichergestellt sein muss, dass eine
ausreichende Versorgung der Betroffenen
vorhanden ist. Zusätzlich sinnvoll, so die
Verfasser*innen weiter, kann es sein, die
Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass die
individuelle Quarantäne altruistisches
Verhalten für andere Menschen darstellt –
also Nächstenliebe und Fürsorge für andere,
für diejenigen, die jetzt stärker als man selbst
bedroht und gefährdet sind bedeutet.
Im Licht der hier dargestellten wissenschaft-
lichen Erkenntnisse erscheinen viele der in
den letzten Tagen und Wochen im Zuge der
Coronakrise in Deutschland beschlossenen
und umgesetzten Maßnahmen auch für die
psychische Gesundheit des Gros der
Betroffenen gut und sinnvoll. Daher ist es
jetzt besonders wichtig, diese auch so
umzusetzen, dass die in Zeiten der Corona-
krise besonders vulnerable Bevölkerungs-
gruppe der in Deutschland lebenden
Menschen mit Fluchthintergrund ebenfalls so
gut wie möglich geschützt werden vor den
körperlichen und psychischen Gefahren der
Epidemie und ihrer Folgen. Dies bedeutet
zunächst die geschilderten Veränderungen
der Lebenssituation der in Massenunter-
künften untergebrachten Geflüchteten.
Des Weiteren ist die Bereitstellung fundierter
aktueller Informationen zu Charakter und
Verlauf der Pandemie und zu den infolge-
dessen stattfindenden Maßnahmen in der
Muttersprache der Geflüchteten notwendig,
Informationen zu entsprechenden
Materialien online und offline finden sich u.a.
auch auf der Homepage der BAfF.
Die Vermittlung dieser Informationen ist
dank der durchweg guten Ausstattung der
Geflüchteten mit Mobiltelefonen eine
vergleichsweise einfach zu bewerkstelligende
Möglichkeit für haupt- und ehrenamtlich in
der Flüchtlingshilfe tätige Personen, hier
wirklich Unterstützung anbieten zu können.
Neben den bereits vielfältig stattfindenden
durch Privatpersonen und Helferkreise
organisierten Angeboten möchte ich hier vor
allem- vielleicht durch meine eigene
derzeitige Situation im Homeoffice
angestoßen – auf die Möglichkeit von
Telefongesprächen unter Hinzuschaltung von
Sprachmitter*innen in Form einer Telefon-
konferenz hinweisen. Telefonanrufe durch
einen Menschen, mit dem im Bestfall schon
vorher hilfreiche und freundliche Kontakte
bestanden, kann vor allem in Krisenzeiten
auch auf psychologischer Ebene Wesent-
liches bewirken und ein wesentlicher
Schutzfaktor für den Erhalt der psychischen
Gesundheit sein. Dem Erleben von Isolation
und Alleingelassenwerden wird entgegen-
gewirkt. Jemanden zu haben, den man fragen
kann zu all dem, was man nicht versteht an
der aktuellen Situation und der oder die mir
im Gespräch vielleicht auch hilft, unter-
schiedliche Informationen, die ich aus
Informationsquellen aus meinem Herkunfts-
land beziehe im Vergleich zu denen, die ich in
Deutschland bekomme sinnvoll miteinander
abzugleichen – all das ist in einem persön-
lichen Telefongespräch gut möglich und
schützt im Sinne in dem Lancet Artikel
zusammengestellter Faktoren vor negativen
Folgen der Isolation. Für uns als Mit-
arbeiter*innen im PSZ bedeuten diese
Telefonate, dass wir weiterhin für unsere
Klient*innen da sein können – gerade auch in
dieser Krisenzeit!
Viele der in Deutschland lebenden
Geflüchteten haben Angehörige in ihren
Herkunftsländern, mit denen sie in Kontakt
stehen und um die sie sich sorgen. Hier kann
eine Unterstützung durch uns Helfende
beispielsweise darin bestehen zu ermutigen,
ganz praktische Informationen wie zum
Beispiel zu Sicherheitsabstand und langem
Händewaschen mit Seife an die Angehörigen
per Telefon weiterzugeben und somit
zumindest in ganz kleinem Ausmaß selbst
Gutes für andere bewirken zu können.
Im PSZ Mainz machen wir auch bereits erste
gute Erfahrungen mit Telefonkonferenzen zu
dritt: Unterstützer*in – Sprachmittler*in –
geflüchteter Mensch. Auf diese Weise kann
zumindest für einige von Coronakrise und
Isolation betroffene geflüchtete Menschen,
mit denen sonst Gespräche aufgrund der
Sprachbarriere nicht möglich wären, Kontakt,
Austausch und Informationsvermittlung
ermöglicht werden. Außer bei denjenigen
Klient*innen für die diese Form des
Kontaktes aufgrund aktueller zu schwerer
psychischer Probleme nicht möglich ist, stößt
doch das Angebot derartiger Telefon-
konferenzen bei überraschend vielen
Klient*innen auf Anklang, und sowohl sie
selbst wie auch die Sprachmittler*innen
zeigen viel Initiative, damit die Gespräche gut
gelingen können. Insgesamt ist zu
beobachten, dass unsere Klient*innen sehr
stark versuchen, sich richtig zu verhalten
während der Coronakrise und für jede
Information dazu sehr dankbar sind.
Leider hat sich in Deutschland unnötiger-
weise die englischsprachige Version des
Begriffes „Räumliche Distanzierung“ durch-
gesetzt. Unter Wikipedia findet man hierzu
folgenden Eintrag:
„Räumliche Distanzierung (englisch: social
distancing), auch räumliche Trennung oder
physische Distanzierung, ist eine Reihe von
nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zur
Infektionskontrolle, die die Ausbreitung einer
ansteckenden Krankheit stoppen oder
verlangsamen sollen. Die Maßnahmen
bezwecken, den Kontakt zwischen Menschen
zu verringern und so die Anzahl von
Infektionen, etwa durch Tröpfchen-
infektionen, zu verringern.
Die Übersetzung des auch in deutsch-
sprachigen Medien verwendeten englischen
Begriffs „social distancing“ in das deutsche
soziale Distanzierung ist missverständlich;
der Begriff „social distancing“ impliziert, dass
Personen gesellschaftlichen Abstand
zueinander halten. Es geht aber nicht um
eine soziale Isolation der Individuen, sondern
um die räumliche Distanzierung von
(möglicherweise) infizierten zu nicht
infizierten Personen.“
Geflüchtete sind aufgrund ihrer persönlichen
Geschichte besonders verletzlich für im
Rahmen der Coronakrise erfolgende
Quarantänemaßnahmen. Als Helfende
können wir auf vielfältige Weise dazu
beitragen, dass aus der notwendigen räum-
lichen Distanzierung keine – möglicherweise
nachhaltig schädigende - soziale Isolation
wird.
Mit herzlichen Grüßen
Petra Mattes
Diplom-Psychologin | Psychosoziales
Zentrum für Flucht und Trauma des
Caritasverbands Mainz e.V.
Quellen:
Samantha K Brooks, Rebecca K Webster,
Louise E Smith, Lisa Woodland, Simon
Wessely, Neil Greenberg, Gideon James Rubin
: The psychological impact of quarantine and
how to reduce it: rapid review of the
evidence, veröffentlicht in Lancet 2020; 395:
912–20, Published Online,February 26, 2020
BAfF Statement vom 23.3.2020 Was hilft
gegen die Angst? Verstärkte Unsicherheiten
und sozialer Abstand zu Zeiten der Corona-
Pandemie: Psychosoziale Unterstützung für
Geflüchtete dringend notwendig | baff-
zentren.org/news/...corona/